Der Ursprung des Wortgottesdienstes
Ein zentrales Erbe der Christen aus der jüdischen Tradition ist die Beibehaltung des Wortgottesdienstes wie er innerhalb der Messe gefeiert wird. Dabei wird oft übersehen, daß der Gottesdienst in der Synagoge bereits zur Zeit Jesu eigenständig neben dem Opferkult im Tempel existierte. Gebete, Schriftlesung und Auslegung der Schrift sind Elemente, die wir aus der Synagoge in unserem Wortgottesdienst wiederfinden. Leider ist die Eigenständigkeit dieser Gottesdienstform im katholischen Raum bis heute nahezu verlorengegangen.
Die Verbindung zum jüdischen Gottesdienst ist nicht nur formaler Art, sondern auch inhaltlich geprägt. An jedem Sonntag und an vielen Wochentagen werden uns für den Wortgottesdienst in der Eucharistiefeier neben den neutestamentlichen Texten auch Ausschnitte aus dem Ersten Testament, der hebräischen Bibel, vorgelegt. Diese sind zusammen mit den Evangelien in sogenannten Leseordnungen zusammengestellt.
Das Liturgische Jahr
Das liturgische Jahr beginnt mit der ersten Vesper des ersten Adventssonntags und endet entsprechend am Samstag vor dem ersten Adventssonntag des Folgejahres. Innerhalb dieses liturgischen Jahres kann man zwei Zeiträume unterscheiden.1.Die Festzeiten. Diese sind: der Advent, die Weihnachtszeit, die Fastenzeit, die drei österlichen Tage und die Osterzeit; 2.Die Zeit im Jahreskreis. Sie beginnt mit dem Montag, der auf den Sonntag nach dem 6.Januar folgt und dauert bis einschließlich Dienstag vor dem ersten Fastensonntag (Karnevalsdienstag). Sie setzt wieder ein mit dem Montag nach Pfingsten und endet vor der ersten Vesper des ersten Adventssonntages. Diese Zeit im Jahreskreis wird immer wieder durch Hochfeste (z.B. Dreifaltigkeitssonntag, Aufnahme Mariens in den Himmel (15.August), Petrus und Paulus (29.Juni) u.a.), durch Feste (z.B. Darstellung des Herrn (Maria Lichtmeß), Fest Kreuzerhöhung(14.Sept.) und durch die normalen Gedenktage der Heiligen unterbrochen. Für alle diese Tage gibt es zur Gestaltung des Gottesdienstes eigene Texte. Jede Diözese gibt jährlich ein DIREKTORIUM heraus in dem für alle Tage des Jahres die entsprechenden Hinweise zu finden sind, welches Fest gefeiert wird und welche Texte dafür zur Auswahl stehen.
Die Leseordnung
Für die Wortgottesdienste der Gemeinden werden für die Sonntage und die Werktage zwei voneinander unabhängige Leseordnungen angeboten. Mit der Leseordnung für die Werktage werden in jedem Jahr alle vier Evangelien nahezu vollständig gelesen. Diese werden begleitet von einer reichen Auswahl an neutestamentlichen Lesungen und an Texten aus dem Ersten Testament. Diese Lesungstexte erstrecken sich auf einen Zweijahresrhythmus. In den liturgischen Büchern werden sie gekennzeichnet mit dem Hinweis Jahr I und II. Die Lesungen sind wie die Evangelien Bahnlesungen und ermöglichen so einen Überblick über größere Texteinheiten. Im Rahmen von Wochenseminaren, Frühschichten oder anderen Gelegenheiten an denen sich eine Gruppe über einen Zeitraum jeden Tag trifft bieten sich hier gute Gelegenheiten, tiefer in einige Kapitel aus dem Buch Genesis oder den Propheten einzusteigen oder auch einen Apostelbrief einmal vollständig zu lesen und sich seiner inneren Dynamik auszusetzen.
Die Leseordnung für die Sonntage erstreckt sich mit den Lesejahren A ,B, C auf drei Jahre. In diesen Jahren werden die Evangelien nach Mt (A), Lk (B), und Mk (C ) gelesen. Das Johannesevangelium ist für die Festzeiten reserviert. Den Evangelien sind passende Texte aus dem Ersten Testament zugeordnet. Für den Predigenden bietet dies die große Möglichkeit, in der Auslegung beide Texte aufeinander zu beziehen. Dabei muß allerdings vor der Gefahr gewarnt werden, die Texte des Ersten Testamentes vorschnell als Vorbereitung auf die Botschaft des Neuen Testamentes zu deuten. Ein Verheißungs-Erfüllungs-Mechanismus ist hier nicht am Platz. Nur in der Osterzeit wird die ersttestamentliche Lesung durch die Apostelgeschichte ersetzt. Als zweite Lesung wird jeweils ein Abschnitt aus einem Apostelbrief vorgesehen. Sie werden als “Bahnlesung” angeboten, so daß über die Sonntage hinweg alle Briefe gelesen werden. Mit diesen Brieflesungen setzt die Kirche eine apostolische Tradition fort. So schreibt Paulus im ältesten uns erhaltenen Brief: „Ich beschwöre euch beim Herrn, diesen Brief allen Brüdern vorzulesen.“(1Thess 5,27). Die Liturgiekommission hat, um den Briefcharakter dieser Lesungen zu wahren, die Brief mit der Anrede „Brüder“ versehen. Wenn wir diese Brief vorlesen, dann sind sie in ihrer Funktion an uns gerichtet und nicht mehr nur an die Adressaten von vor ca. 1900 Jahren. Daraus ergibt sich, daß nicht mehr die einseitige Anrede „Brüder“ stehen bleiben darf, sondern wir die „Schwestern und Brüder“ ansprechen müssen die vor uns in den Kirchenbänken sitzen. Hier geht die Gattungstreue vor der Worttreue.
Aus dem bisher gesagten ergibt sich, daß die Leseordnung zwei Intensionen verfolgt.
Erstens möchte Sie dem Volk Gottes die Fülle der biblischen Texte näher bringen. In der Konstitution über die heilige Liturgie schreibt das Zweite Vatikanum: „Auf daß allen Gläubigen der Tisch des Gotteswortes reicher bereitet werde, soll die Schatzkammer der Bibel weiter aufgetan werden, so daß innerhalb einer bestimmten Anzahl von Jahren die wichtigsten Teile der Heiligen Schrift dem Volk vorgetragen werden.“(KL51)
Zweitens soll durch die größere Einbeziehung von Texten aus der hebräischen Bibel die Verbindung zur jüdischen Wurzel unseres Glaubens verstärkt werden.
Die Wahl der Schrifttexte
In der Regel gilt die Vorschrift, daß an den Sonntagen alle drei Texte vorgelesen werden. Aus Zeitgründen, oder weil manchem das zuviel Text wird, fällt eine Lesung unter den Tisch. Gegen das Zeitargument läßt sich alles und nichts sagen. Ich denke, daß es mit der Gesamtgestaltung des Gottesdienstes zu tun hat, ob einem die Zeit zu lang wird oder nicht. Für einen gut gefeierten Gottesdienst sind die Gläubigen nach meiner Wahrnehmung bereit, 60 Minuten zu investieren.
Wesentlicher ist das Argument „zuviel Text“. Ich denke das hängt mit zwei Faktoren zusammen. Zum einen liegt es an der Art des Vortrags. Häufig werden die Texte so gelesen, daß die Bilder, Szenen und Botschaften die im Text vorkommen nicht beim Hörer ankommen können. Lektor und Lektorin lesen nur. Sie Lesen nicht vor, zeigen der Gemeinde nicht die Gestalten, Orte und Farben. Sie lassen sie nicht sehen, riechen und schmecken was in der Schrift steht. Sie verkünden nicht. Das aber ist ihre Aufgabe. Im Lesen der Texte stehen sie bereits im Verkündigungsdienst, so wie der Predigenden anschließend in der Auslegung des Wortes.
Die sogenannten Kurzfassungen von vermeintlich zu langen Schrifttexten haben nur das reine verstandesmäßige Hören der Gemeinde im Blick. Wenn wir davon ausgehen, daß bei den „Langfassungen“ es meistens um Geschichten geht, um die Darstellung größerer Zusammenhänge, dann verhindert gerade die Kurzfassung, das Eintauchen in dieses Geschehen.
Damit dies gelingen kann ist es notwendig, die Gemeinde besser auf dieses Verkündigungsgeschehen vorzubereiten. Dies bedeutet, daß wir ein neues Hören einüben müssen. Dazu gehört auch, der Gemeinde etwas mehr Zeit zu lassen, das Gehörte bei sich ankommen zu lassen und mit den eigenen Erfahrungen verbinden zu können. Neben einer kurzen Ruhepause können hier eine bewußtere Einbindung von Antwortgesang und Hallelujaruf helfen.
Antwortgesang und Hallelujaruf
Neben den Lesungs- und Evangelientexten gibt es innerhalb der Liturgie eine zweite Gruppe von biblischen Texten, die erst mit der Liturgiereform ins Bewußtsein der Gläubigen gehoben wurden, aber sehr schnell wieder ins Nichtgewußte abwanderten. Es handelt sich um den reichen Schatz der Psalmen und Hymnen die im Wortgottesdienst als Antwortgesang nach den Lesungen und als Hallelujaruf vor dem Evangelium ihren Platz haben. Leider fristen diese beiden Gebetsformen ein absolut kümmerliches Dasein. Außerhalb der Osterzeit ist der Hallelujaruf nahezu vollständig verschwunden. Der Antwortgesang wird noch als Zwischengesang mißverstanden und von Liedern verdrängt die bereits aufs Evangelium hinzielen wie „Liebster Jesus wir sind hier dich und dein Wort anzuhören“.
Die liturgische Ordnung bietet nach der ersten Lesung einen Antwortpsalm an und nach der zweiten Lesung einen Hallelujaruf. Diese Texte sind Antwort des Volkes auf die gehörte Lesung und Einstimmung auf das bevorstehende Evangelium. Für den Hörenden bietet gerade der Antwortgesang eine sehr gute Möglichkeit, sich selbst durch das Sprechen oder Singen in Beziehung zur gerade vernommenen Botschaft zu setzen. Nehmen wir als Beispiel den elften Sonntag im Jahreskreis Lesejahr B: 1. Lesung: „So spricht Gott der Herr: Ich selbst nehme ein Stück von hohen Wipfel der Zeder und pflanze es ein. Einen zarten Zweig aus den obersten Ästen breche ich ab, ich pflanze ihn auf einen hohen ragenden Berg....“(Ez 17,22...) Im Antwortpsalm heißt es dann: „Der Gerechte gedeiht wie die Palme, er wächst wie die Zeder des Libanon. Gepflanzt im Hause des Herrn, gedeihen sie in den Vorhöfen unseres Gottes....“ Das eine Hören und mit dem anderen aktiv antworten macht einen großen Unterschied in der Realisierung der Botschaft für mich als wenn ich nur Hören würde und mit einem Lied „antworten“ müßte das das Bild aus dem Schrifttext nicht aufnimmt was in der Regel der Fall ist.
Der Hallelujaruf ist inhaltlich auf das Evangelium bezogen und legt dabei den Schwerpunkt auf die Person Jesu. So heißt es vor dem Evangelium vom Samen auf dem Acker (Mk 4,26-34) „Halleluja. Halleluja. Der Samen ist das Wort Gottes, der Sämann Christus. Wer Christus findet, der bleibt in Ewigkeit. Halleluja.“ Die Gläubigen sollen in die innere Haltung eingestimmt werden, die die Menschen beim Einzug Jesu in Jerusalem bewegte.
Es muß jedoch gesagt werden, daß die Herausgeber der Leseordnung an dieser Stelle nicht ganz konsequent vorgehen. Lassen Sie an den Werktagen noch der einen Lesung einen Antwortgesang folgen und diesem dann den Hallelujaruf, so fehlt für die Sonntagsordnung der Antwortpsalm nach der zweiten Lesung. Hier können die Liturgen und Liturgiekreise auf die reiche Auswahl der 150 Psalmen zurückgreifen.
Wählen und auswählen, die Qual der Wahl oder: Warum sich quälen?
Die Liturgiekommission hatte den Auftrag, in der Leseordnung die „wichtigsten Texte“ der Schrift vorkommen zu lassen. Es bleiben somit immer noch Texte übrig, die vielleicht auch wert sind, gelesen und bedacht zu werden. Hier stehen den Liturgen letztendlich alle Wege offen. Vorzuziehen ist aber immer der zunächst vorgeschlagene Text. Dies hat mehrere Gründe.
Zum einen stellen wir uns mit der Übernahme der angebotenen Texte in einen größeren kirchlichen Kontext. Die uns vorliegenden Texte gelten für den gesamten deutschsprachigen Raum. Mit uns ringen an vielen Orten, und oft zu gleicher Zeit viele Menschen um ein angemessenes Verständnis der Botschaft der Schrift an uns.
Zum anderen sind die uns vorliegenden Texte so dicht und aus einer so intensiven Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes entstanden, daß ihr Reichtum und Tiefsinn oft größer ist, als wir auf den ersten Blick vermuten. Dies geht sogar soweit, daß, wenn ich einen Gottesdienst unter ein bestimmtes Thema stellen will, es hilfreich sein kann, zunächst einmal zu schauen, was sich aus den Tagestexten zu diesem Thema herausfinden läßt.
Zum dritten birgt das Bestreben, sich „bessere“ Texte zu suchen die Gefahr, sich vor der Auseinandersetzung mit sperrigen und schwierigen Passagen der Schrift zu drücken. Hier verkennen viele, daß die Probleme, die ich vielleicht mit einem Text habe, auch ein Großteil der Gemeinde hat. Dann aber wäre es endlich an der Zeit, dieses auch zu benennen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen oder auch nur die Fragen als gemeinsame Fragen offen zu legen. Dann muß ich mir nicht mehr alleine dumm vorkommen weil ich etwas nicht verstehe oder verstehen will.
Die Umgang mit der Perikopenordnung
Aus dem bisher gesagten ist deutlich geworden, dass hier für das Festhalten an den vorgegebenen Texten gewoben wird. Die Priester, die in der Regel den Sonntagsgottesdienst feiern halten sich in den meisten Fällen auch daran. Die Ehrenamtlichen, die zunehmend die Leitung von Wortgottesfeiern übernehmen, sehen sich oft von den Texten überfordert und neigen dann dazu, nach Texten zu greifen, die sie kennen und zu denen ihnen etwas einfällt. Es lässt sich aber zeigen, dass die theologische Kompetenz bei den ehrenamtlichen Laien, das heißt den Gottesdienstbesuchern höher ist, als ihnen gerade von den ausgebildeten Theologen und Theologinnen angenommen wird. In meiner Untersuchung, „Das Predigtnachgespäch in der Gemeinde als Element der Gemeindebildung, Würzburg 2000 Konnte ich das nachweisen.
Es kommt ja bei der Schriftauslegung nicht in erster Linie auf die „richtige“ Auslegung anm sondern darauf, was der Text bei mir ausgelöst hat, wohin er mich geführt hat. Das bedeutet, mir selbst und den Text zu vertrauen.
Voraussetzungen für eine gelingende Verkündigung
- Im Blick auf die Personen, die die Texte vorlesen, muss ihnen ausreichend Zeit gegeben werden, sich auf das Vortragen vorzubereiten. Nur das, was sie von einem Text verstanden haben können sie so vorlesen, dass auch die, die ihnen zuhören verstehen, was ihnen hier an „Speise“ angeboten wird. Dabei kommt es nicht darauf an, dass sie den Text „richtig“ verstehen, sondern dass sie ihm ein Verständnis abringen, das ihnen in dem Text entgegengekommen ist. Im Vortragen wird der die Bibelstelle zu ihrem Text. Die erste Lesung am 8. Sonntag im Jahreskreis Lesejahr B aus dem Buch des Propheten Hosea Kapitel 2 ist so zerstückelt, dass ihm nur sehr schwer auf der Inhaltsebene ein Sinn abzugewinnen ist. Wenn ich aber verstanden habe, dass es hier letztendlich um eine Brautwerbung geht, dann bin ich in der Lage, den Text so vorzutrage, dass von dieser Empfindung etwas die Hörerinnen und Hörer erreicht.
- Die, die im Gottesdienst öffentliche Dienste übernehmen, als LektorInnen, VorsteherInnen und PredigerInnen müssen in angemessener Weise auf diese Aufgaben vorbereitet werden. Dazu gehört auch eine intensive Lese- und Sprechschulung. Dazu ist es u.a. notwendig, dass allen, die Texte vorzutragen haben eine ausreichende Zeit , d.h. einige Tage, zur Vorbereitung gegeben wird. (nicht erst 10 Minuten vor dem Gottesdienst.
- Die Gemeinden müssen in einem längeren Prozeß, der von den Amtsinhabern von heute initiiert und begleitete werden muß, auf die Situation der veränderten Gottesdienstpraxis vorbereitet werden. Die veränderten Gemeinden haben wir bereits.
Der „Tisch des Wortes“ ist reich gedeckt. Es liegt an uns, bei den Speisen beherzt zu zugreifen.
In 2021 überarbeiteter Artikel aus dem Jahr 2000