Eine Problemskizze [1]
In einer Handreichung des katholischen Bibelwerkes für Lektorinnen und Lektoren zum Bibellesen wird das„Problem“ der Anrede „Brüder und Schwestern“ in den Paulusbriefen angesprochen.1 Im Rückgriff auf die Erkenntnisse der exegetischen Wissenschaft wird in dieser Handreichung darauf hingewiesen, dass das griechische „adelphoi“ „Brüder“ heute mit „Schwestern und Brüder“ übersetzt werden muss. Das Bibelwerk beruft sich hier auf Elisabeth Schüssler Fiorenza die als Prinzip formuliert: „Solange Frauen bzw. weibliche Aspekte im Text nicht ausdrücklich ausgeschlossen werden, muss bei grammatikalisch androzentrischen Texten angenommen werden, dass sowohl von Männern als auch von Frauen die Rede ist.“
Diesem ist zunächst von kultureller und exegetischer Seite nichts hinzuzufügen. Gerade aus den Paulusbriefen und der Apostelgeschichte wissen wir um das vielfältige Engagement von Frauen in der jungen Kirche.
Die Handreichung weist außerdem darauf hin, dass dies [ die Erweiterung um die Schwestern] „selbst dann“ geschieht, „wenn die griechische Anrede adelphoi („Brüder“) im biblischen Text an der Stelle gar nicht vorkommt.“ Wenn man genau hinsieht, kommt sie in den meisten Fällen nicht vor. Sie ist eher die Ausnahme. Warum aber beginnen die Lesungstexte im Lektionar mit dieser Anrede, wenn sie an dieser Stelle im Original nicht zu finden ist. Die Antwort auf diese Frage findet sich im Verständnis der literarischen Gattung um die es hier geht. Wir haben es mit Briefliteratur zu tun und ein Brief beginnt im allgemeinen mit der Anerde des Adressaten. Deshalb ist die Anrede „Brüder“ nicht unter dem Gesichtspunkt der androzentischen Sprache der damaligen Zeit zu verstehen, sondern unter dem Gesichtspunkt das es darum, geht, einen Adressaten anzusprechen. Es sollte deshalb zunächst einmal untersucht werden, wie denn Paulus die Empfänger der Briefe anspricht. Das bedeutet, in erster Linie darf von der Anrede ausgegangen werden, die Paulus selbst zu Beginn seiner Briefe wählt.
Die Anrede des Paulus
Beim Blick in die Anfänge der Briefe und die Anrede seiner Adressaten fällt auf, dass Paulus - bis auf eine Ausnahme im Brief an die Gemeinde in Kolossä - nirgendwo die „Brüder“ in der Anrede erwähnt. Er spricht von der Gemeinde in....., von den Heiligen, den Geheiligten und der Kirche . Es sind auch nicht die Römer, Korinther, Philipper in diesen Gemeinden, sondern es sind die Menschen in den Städten angesprochen, die Gemeinden, Geheiligten und Heiligen in Rom, Korinth, Ephesus und und ... .Mit diesem Befund bekommt die Anrede zu Beginn einer Lesung aus der Briefliteratur einen anderen Hintergrund und ein anderes Gewicht. Wenn im Gottesdienst ein Abschnitt aus einem der Briefe vorgelesen wird, nimmt die Anrede zu Beginn der Lesung Bezug auf die Anrede mit der der Brief beginnt. Es werden alle Anwesenden der Gemeinde angesprochen, die Brüder und die Schwestern.
Wenn die ganze Gemeinde Adressat eines Briefes ist, ergibt sich daraus eine weitere Veränderung in unseren traditionellen Formulierungen. Es kann nicht mehr vom „Brief des Apostels Paulus an die Römer“ gesprochen werden, sondern vom „Brief an die Gemeinde in Rom“, ...Ephesus, ...Korinth und ....„an die Gemeinden in Galatien“. Mit dieser Umformulierung ändert sich das Angesprochensein der Hörenden. Wenn wir diese Änderung nicht vornehmen, bleiben - wir ohne es zu merken – bei der Briefansage in der Androzentrik stecken, die wir in der Anrede – Brüder und Schwestern - zu vermeiden suchen.
Trotzdem kann man natürlich nicht die Augen davor verschließen, dass in den paulinischen Briefen die Anrede „Brüder“ immer wieder vorkommt.
Die „Brüder“ in den Briefen des Paulus
Unabhängig von der ersten Beobachtung, dass Paulus in der Anrede nicht den Terminus „Brüder“ verwendet, ist seine Sprechweise auf Grund des kulturellen Umfeldes androzentrisch geprägt.2 Dies zeigt sich u.a. im häufigen Gebrauch der Anrede „Brüder“ innerhalb der Briefe. Im 1. Brief an die Gemeinde in Korinth kommt diese 24 Mal vor. In zweiten Brief 10 Mal, im Brief an die Gemeinde in Rom 13 Mal und an die Gemeinden in Galatien 11 Mal..
Es ist nun zu fragen, welche Bedeutung diesem Wort „Brüder“ an den entsprechenden Stellen zukommt. In I Kor 1,10 und 11 ist es ein Aufmerksamkeits- und Bekräftigungssignal. 10 „Ich ermahne euch aber Brüder, im Namen Jesu Christi, unseres Herrn: Seid alle einmütig, und duldet keine Spaltungen unter euch; seid ganz eines Sinnes und einer Meinung. 11 Es wurde mir nämlich, meine Brüder, von den Leuten der Cloë berichtet, dass es Zank und Streit unter euch gibt.“ Und in Vers 26 heißt es : „ Seht doch auf euere Berufung, Brüder!“ Die Erwähnung der Brüder kurz nach der so ausführlichen Anrede ergibt keinen Mehrwert an Informationen. Die Anrede zielt auf die Aufmerksamkeit der Adressaten und sie bekräftigt den Inhalt der vorhergehenden oder nachfolgenden Aussage. Für den Leseduktus ist es an diesen Stellen kein Problem, die Schwestern ergänzend mit einzufügen. Dieser Eingriff in den Text verstärkt das Anliegen des Paulus, nämlich für diese wichtigen Fragen die Aufmerksamkeit ALLER in der Gemeinde zu bekommen. Das heißt, die Einfügung der Schwestern ist keine Verfälschung der inhaltlichen Anliegens sondern eine Verstärkung.
Gravierender wird von den meisten Lektorinnen und Lektoren, und nicht nur von ihnen, ein Texteingriff an den Stellen empfunden, wo es um inhaltliche Aussagen geht. Dies zeigt sich z.B. dann, wenn Paulus seine Hörer – und Hörerinnen – davon überzeugen möchte, dass sie Söhne (und Töchter?) Gottes sind.
Aus „Brüdern und Schwestern“ werden „Söhne und Töchter“
Nachdem deutlich geworden ist, dass Paulus „alle“ „Heiligen“ ansprechen möchte und dies für seine Zeit – gerade in der offenen Anrede zu Beginn der Briefe - auch tut, stellt sich in unserem soziokulturellen Kontext die Frage, zu welchen Konsequenzen diese Hinwendung zu den Männer und Frauen für Lektor und Lektorin führt.
Paulus wendet sich in seinen Briefen an konkrete Menschen in den Gemeinden. Wenn wir die Texte heute lesen, wendet er sich an uns, die konkreten Männer und Frauen in unseren Gemeinden. Aufgrund dieser konkreten Ansprache ist es notwendig so weit wie möglich die Männer und Frauen in dieser Konkretheit anzusprechen.
Das führt zu der Notwendigkeit, soweit es theologisch und aus sprachlich-ästhetischer Sicht möglich ist, Erweiterungen in den Texten vorzunehmen. Damit werden die Texte der heutigen kommunikativen Situation angeglichen. Unter „kommunikativer Situation“ verstehe ich die Tatsache, dass in unserer Zeit die Frauen das Recht haben, persönlich angesprochen zu werden und nicht unter die Begriffe Brüder und Söhne eingeordnet werden wollen.
Die Probleme, die dabei auftreten sollen im Folgenden an zwei Texten veranschaulicht werden.
Paulus an die Gemeinde in Galatien (Galater) (3,26 - 4,7)
26 Ihr seid alle durch den Glauben Söhne [ und Töchter]Gottes in Christus Jesus. 27 Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus (als Gewand) angelegt.28 Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid «einer» in Christus Jesus 29 Wenn ihr aber zu Christus gehört, dann seid ihr Abrahams Nachkommen, Erben kraft der Verheißung. 4:1 Ich will damit sagen: Solange der Erbe unmündig ist, unterscheidet er sich in keiner Hinsicht von einem Sklaven, obwohl er Herr ist über alles; 2 er steht unter Vormundschaft, und sein Erbe wird verwaltet bis zu der Zeit, die sein Vater festgesetzt hat. 3 So waren auch wir, solange wir unmündig waren, Sklaven der Elementarmächte dieser Welt. 4:4 Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, 5 damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen, und damit wir die Sohnschaft [Kindschaft]erlangen. 6 Weil ihr aber Söhne[(und Töchter] seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unser Herz, den Geist, der ruft: Abba, Vater. 7 Daher bist du nicht mehr Sklave, sondern Sohn [oder Tochter]; bist du aber Sohn [oder Tochter], dann auch Erbe, Erbe durch Gott.
Im Brief an die Gemeinden in Galatien zeigt sich, dass die einfache Erweiterung um die Schwestern zu inhaltlichen und stilistischen Brüchen führen kann. So gibt im Deutschen noch kein feminines Äquivalent zu „Sohnschaft“ in Vers 5 Paulus bezeichnet mit diesem Ausdruck den Rechtsanspruch, der dem Sohn im Gegensatz zum Sklaven - und zur Tochter - zukommt. In der hebräischen Rückübersetzung heißt es hier >mischpat habanim< (Rechtsstellung als Sohn). Da in unserer Zeit die Töchter im Erbrecht den Söhnen gleichgestellt sind, legt sich hier die Übersetzung „Kindschaft“ nahe. So wird der Ausschluss der Frauen aufgehoben. In Vers 7 entsteht stilistisch eine Schwierigkeit durch den Numeruswechsel. Zu Beginn lässt sich der Plural „Söhne“ leicht um die „Töchter“ ergänzen. In Vers7 führt es im Hörverstehen durch die direkte Anrede im Singular zu Irritationen, den ich bin nicht zugleich Sohn und Tochter. Hier muss deswegen die Ergänzung um die Tochter mit einem „oder“ angeschlossen werden.
Nun bleibt noch die Frage offen, was mit „Sklave“ und „Erbe“ zu geschehen hat. Paulus geht es in diesem Begriffspaar um den Gegensatz von Versklavung und Freiheit. Auf diesem Hintergrund schlage ich vor, „Sklave“ und „Erbe“ als Gattungsbegriff zu verstehen und unverändert stehen zu lassen. Das Gleiche gilt für den folgenden Text aus dem Brief an die Gemeinde in Rom.
Paulus an die Gemeinde in Rom (8,14 - 17)
14 Alle, die sich vom Geist Gottes leiten lassen, sind Söhne [und Töchter] Gottes. 15 Denn ihr habt nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht, so dass ihr euch immer noch fürchten müsstet, sondern ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen[und Töchtern] macht, den Geist, in dem wir rufen: Abba, Vater! 16 So bezeugt der Geist selber unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind. 17 Sind wir aber Kinder, dann auch Erben; wir sind Erben Gottes und sind Miterben Christi, wenn wir mit ihm leiden, um mit ihm auch verherrlicht zu werden.
Diese Perikope bietet für unsere Fragestellung einen vermeintlich leichten Ausweg. In Vers 17 werden wir als Kinder angesprochen. Da liegt es nahe. Die „Söhne“ durch „Kinder“ zu ersetzen. Dann würde es am Anfang problemlos heißen: Schwestern und Brüder. Alle die sich vom Geist Gottes leiten lassen sind Kinder Gottes. Ein Blick in die Septuaginta bestätigt uns in dieser Überlegung, denn dort ist an allen Stellen in gleicher Weise von „filii“ die Rede. Paulus schreibt aber Griechisch und benutzt hier - offensichtlich bewusst – unterschiedliche Begriffe. Auch in der hebräischen Rückübersetzung finden sich die Unterschiede. Der Sohn – griech. >hyios<, hebr. >ben< meint den erwachsenen volljährigen Sohn, der in Freiheit sein Handeln eigenverantwortlich gestalten kann. Das Kind – griech. >teknon< - ist das, was den Mutterschoss durchbrochen hat. Die hebräische Rückübersetzung benutzt in V17 >jeled<. >Jeled< ist das Geborene ähnlich wie im griechischen >teknon<. In den Texten der Weihnachtsnacht findet sich dies bei Jes 9,5 „ein Kind ist uns geboren – >jeled julad lanu< –ein Geborenes ist uns geboren – ein Sohn ist uns gegeben – >ben natan lanu<. Dieser Befund zeigt, dass Paulus im Brief an die Gemeinde in Rom bewusst auf diesen Unterschied setzt. Vom inhaltlichen Anliegen macht dies auch Sinn. Zum einen geht es um unser Handeln in freier Verantwortung Sklave – Sohn/Tochter. Zum anderen geht es um unser Verhältnis zu Gott. Dies drückt Paulus mit dem Bild vom Kindsein aus „in dem wir rufen: Abba, Vater.“ Daraus ergibt sich dann die Vorstellung vom Erbe-sein, das dem Menschen durch Geburt zukommt.
Paulus gestern – Paulus heute
Es zeigt sich, dass die Frage nach der Einbeziehung der Frauen in unsere liturgische Sprache nicht ein Problem der Übersetzung oder des „Frauenfeindes Paulus“ ist, sondern eine Frage der Tradition.3 So wie bei genauem Hinsehen die Bedeutung der Frauen in den paulinischen Gemeinden deutlich wird, lassen sich bei einer situationsgerechten adressatenorientierten Anwendung der Briefe die Frauen in den Gemeinden bewusst ansprechen. Zum Leidwesen der Kirche hat die Zurückdrängung der Frauen bereits in den neutestamentlichen Texten durch frühe Einschübe – auch in die Paulusbriefe – begonnen. Es wird Zeit, mit dieser Tradition zu brechen, nicht nur in der exegetischen Forschung , sondern auch im sprachlichen liturgischen Alltag.
[1] Erstveröffentlichung: Pastoralblatt 1/2004, 23-26